Recensie Arnhem

Berg und Mahler im niederländischen Arnhem (16.10.2012)

Gustav Mahler und die Wiener Schönberg-Schule haben weiterhin eine eindrucksvolle Pflanz- und Pflegestätte in unserem nordwestlichen Nachbarland!

Vor wenigen Tagen (16.10.) war in Arnhem, Hauptstadt der holländischen Provinz Gelderland, Denkwürdiges zu erleben. In demselben Saal des gründerzeitlichen Concertgebouw ‘Musis Sacris’, wo im Winter 1902 Mahlers Dritte Symphonie, schon wenige Monate nach der Krefelder Uraufführung, ihren ersten Auftritt außerhalb Deutschlands hatte, kamen an einem Abend Alban Bergs selten gespielte „Drei Orchesterstücke op.6“ und Mahlers „Das Lied  von der Erde“, zur Aufführung, und zwar jeweils in einer Fassung  für Kammerorchester. Ausführende waren das erst vor kurzem ins Leben gerufene „Alban Berg Ensemble“ unter seinem famosen Leiter Stephan Pas; dazu als exzellent gestaltende Vokalsolisten Karoline Hartmann und Mark Omvlee. Maarten Brandt, der ebenso kundige wie engagierte Intendant und Programmgestalter hatte den Abend unter das Motto „Abschied“ gestellt: für Mahler der nahende Abschied vom Leben und für den um eine Generation jüngeren Berg die (versuchte) Ablösung vom  Regime des gestrengen Lehrers Schönberg – nämlich eben durch umso leidenschaftlichere Zuwendung zum symphonischen Idol Mahler!

Mahlers sechs zyklische Orchesterlieder für Mezzosopran und Tenor nach (pseudo-)traditioneller chinesischer Lyrik, im Ouevre platziert zwischen der metaphysisch aufgeladenen Achten Symphonie und der ergreifenden Neunten und uraufgeführt  kurz nach Mahlers Tod (in München durch Bruno Walter) hat ja – ungeachtet des großen und farbigen symphonischen Apparats – bereits im Original deutliche kammermusikalische Züge. Schon Arnold Schönberg hatte (1911) eine reduzierte Fassung erstellt und Rainer Riehn hat diese (in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts) ergänzt zu genau der Besetzung von Schönbergs, noch tonal komponierter Kammersymphonie von 1906 (die wohl ihrerseits angeregt war durch Wagners Siegfried-Idyll).

Das genau ist auch das Format des niederländischen Alban Berg Ensembles. Und die zumeist jugendlichen Musiker (rekrutiert wohl aus Hochschulabsolventen der Region) lieferten, souverän und präzise durch die schwierige Partitur geleitet durch Stephan Pas, eine mahlersch-farbige Klangbühne für die wechselnden Auftritte der beiden Vokalsolisten: beide mit glockenreiner Intonation und agilstem Ausdruck, dabei mit makelloser Phonation und Artikulation der deutschen Texte – man wünschte sich solche sängerische plus textliche Qualität bei manchen der vielen ausländischen Sänger die heute unsere Opernbühnen und Konzertpodien bevölkern!

Der Abend aber wurde eröffnet mit der Uraufführung einer Kammerorchester-Fassung von Bergs drei symphonischen Charakterstücken („Präludium“, „Reigen“ und „Marsch“) von 1914/15, kongenial erstellt von Pas. Dieses Bergsche op.6 – bis heute eine der wenigen Kompositionen von zyklisch-symphonischem Anspruch und Format in strikter, aber freier Atonalität – ist entstanden bekanntlich in engster zeitlicher und thematischer Nähe zur „Wozzeck“-Oper.  Adorno, der Berg-Schüler, hat namentlich das mittlere, das „Reigen“-Stück – mit seiner lasziven Walzergestik, seiner ausgefeilten Kontrapunktik und seinen farbigen Ballungen – zur Vorstudie der Oper erklärt; und von der Partitur des dritten der Stücke, dem grotesk- apokalyptischen „Marsch“ meinte er, das müsse klingen, ‘als wenn Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und Mahlers Sechste zugleich gespielt’ würden. Äußerliches Indiz dessen ist der dreifach Hammerschlag und ein seltsam stockender Leitrhythmus. Tatsächlich aber reicht die Mahler-Nähe bis in die innerste, zumeist kontrapunktische  Faktur, die Klang-Gestik und das  ausgefeilte Tempo-Regime der Partitur. Tatsächlich befand sich Berg in jenen Jahren in einem tiefen und ihn zeitweise lähmenden Treuekonflikt, nämlich eben schwankend zwischen der von Schönberg als Geburtstagsgeschenk bestellten „Suite von Charakterstücken“ und der symphonischen Sendung des heimgegangenen Idols Mahler. (Die Weltkriegsvision, die viele im „Marsch“-Stück auch hören, tritt allenfalls sekundär hinzu).

Es ist erstaunlich, wie sehr Pas mit seinem solistischen Apparat von Streichquintett, Holzbläser-quartett, Horn, Klavier, Harmonium und Schlagwerk (mitsamt den üblichen Alternativen) dem Original nahekommt. Ja, in manchen Momenten, zumal natürlich den ausgeprägt polyphonischen oder auch den ‘zerbröselnden’ Partien, meint man die Bergsche Intention (‘Deutlichkeit über alles!’) gar reiner verwirklicht zu hören; und generell kommt offenbar die kammermusikalische Erfahrung der Ausführenden der präzisen Gestik und Agogik der Komposition zugute. Sogar in den panischen Massierungs-Höhepunkten bleibt das Klangbild konturiert und ausgewogen – das freilich mag man als dem Marschwesen eher unangemessen erachten, das nun mal ein Massen-Phänomen  ist!

Ganz grandios aber der ‘Hammerfall’, der die Schlussphase des „Marsch“-Geschehens gliedert: Pas hatte eigens einen gewaltigen Holzhammer bauen lassen, und der kräftig gewachsene Spieler stieg auf ein Podest, um diesen auf einen ebenfalls hölzeren Resonanzkasten niedersausen zu lassen: eine wahre Hinrichtung, unter der das Marschwesen selbst schließlich dröhnend verendet.

Sehr dienlich ist natürlich vor allem das Harmo-nium, wo oft der Blechbläsersatz zusammen-gefasst ist. Schon Schönberg hatte es ja mehr-fach eingesetzt, und überhaupt geht das Reduk-tionsprojekt auf eine Anregung Schönbergs gegenüber Berg zurück, nämlich im Interesse des „Vereins für musikalische Privatauffüh-rungen“, dessen Sekretär und Motor Berg damals (in den frühen 20er Jahren) war. Der aber zögerte und vertraute auf den Sog des „Wozzeck“-Erfolgs. Und tatsächlich kam es zur Oldenburger(!) Uraufführung des kompletten Opus 6 im Anschluss an eine dortige „Wozzeck“- Inszenierung: schon damals also die Provinz das eigentlich progressive Pflaster!

So nun auch jüngst im niederländischen Arnhem: Großer Beifall des gut gefüllten Saales für die Pas-Berg-Präsentation, stehende Ovationen schließlich für Riehn-Mahler; und der größte Teil galt zweifellos der bravourösen Leistung aller Mitwirkenden.

Insgesamt wünscht man der Neufassung des Bergschen Opus. 6 – Pas hält sie zu Recht für mehr als eine ‘Bearbeitung’ – eine Karriere auf den Konzertpodien der Welt, wo ja heute oftmals der Rotstift der Finanzverwalter ansetzt. Der Rezeption dieser längst noch nicht in der Breite des gebildeten Publikums angekommenen Musik wäre damit ein großer Dienst erwiesen.

Dem deutschen Berichterstatter und Rezensent bleibt nur, sich zu bedanken: Wir können uns glücklich preisen, dass in unserem Nachbarland, kaum mehr als eine Autostunde von Bonn und Köln entfernt, so großartige Musik gemacht wird.

Dr. M. von Borries, Meckenheim

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